Klischee und Neugier
Als ich das Buch schließlich zur Hand nahm, war ich selbst in einer, sagen wir, „verlangenden“ Stimmung – und wollte wissen, ob all die Worte über Liebe, Sehnsucht und dieses ganz bestimmte Sommergefühl wirklich mehr sind als ein schöner Schein.
In dieser Call Me by Your Name Buchrezension nehme ich dich mit in meine Lektüreerfahrung: Was hat das Buch mit mir gemacht? Wie schreibt Aciman über queere Liebe? Und lohnt es sich, Call Me by Your Name heute noch zu lesen?
Eine lange Zeit dachte ich, Call Me by Your Name zu lesen sei fast schon ein Klischee – besonders als queere Person. Vielleicht kennst du das Gefühl: Ein Buch wird überall gefeiert, vor allem in queeren Kreisen, und man fragt sich, ob einen die Geschichte wirklich berühren wird – oder ob es sich einfach nur um einen Hype handelt.
Worum geht es in Call Me by Your Name?
Für alle, die das Buch noch nicht gelesen oder die Verfilmung des Star-Regisseurs Luca Guadagnino nicht gesehen haben, hier eine kurze Zusammenfassung:
Der Roman folgt dem introvertierten und musikalisch begabten 17-jährigen Elio Perlman. Elio ist der Sohn eines Professors, der jeden Sommer junge Gastautoren in seinem Haus aufnimmt – inmitten der malerischen Kulisse der italienischen Riviera.
Im Sommer der frühen 1980er zieht ein charismatischer amerikanischer Wissenschaftler namens Oliver bei Elios Familie ein – und eine unvergessliche Geschichte über Sehnsucht, Selbstfindung und intensive Gefühle nimmt ihren Lauf.

Elio & Oliver: Zwischen Sehnsucht und Zurückhaltung
Die emotionale Dynamik der Beziehung
Das Herzstück des Romans ist die sich entwickelnde Beziehung zwischen Elio und Oliver. Man sollte von Call Me by Your Name keine rasante Handlung erwarten – vielmehr ist es eine subtile Studie über Begierde, Zurückhaltung und das Erwachen der ersten Liebe.
Elio verspürt früh eine Anziehung zu dem älteren, selbstbewussten Oliver. Doch obwohl sie sich ähnlich sind und eine besondere Verbindung aufbauen, hält Elio emotionalen Abstand, versucht Oliver zu ignorieren – während er gleichzeitig nicht aufhören kann, an ihn zu denken. Dieses Wechselspiel erzeugt eine tiefgreifende Spannung.
Perspektive und Idealisierung
Wir erleben die gesamte Geschichte ausschließlich aus Elios Perspektive – seine Gedanken, Unsicherheiten und inneren Monologe geben dem Roman emotionale Tiefe. André Aciman gelingt es, das Innenleben seines Protagonisten so eindringlich darzustellen, dass man sich als Leser:in leicht in seine Gefühlswelt hineinziehen lässt.
Oliver hingegen bleibt weitgehend geheimnisvoll. Er wird durch Elios Blick fast überhöht: als intellektuell, unglaublich attraktiv und hetero-passing. Außerdem ist Oliver vom ersten Moment an interessiert an Elio. Für viele queere Leser:innen mag das wenig realistisch wirken – aber vielleicht ist genau das der Punkt: große Literatur darf auch idealisieren und Sehnsucht feiern.
Der Altersunterschied: Romantik oder problematisch?
Ein Aspekt, der nicht ignoriert werden sollte, ist der Altersunterschied zwischen Elio (17) und Oliver (24). Während der Roman selbst diesen Unterschied eher stillschweigend hinnimmt, ist er aus heutiger Perspektive durchaus diskussionswürdig. Besonders weil Elio minderjährig ist, stellt sich die Frage, ob hier eine ungleiche Dynamik romantisiert wird.
Gleichzeitig kann man argumentieren, dass das Buch aus Elios Sicht geschrieben ist – als Rückblick auf einen prägenden Sommer – und weniger als objektive Darstellung einer gesunden Beziehung. Dennoch lohnt es sich, diesen Aspekt kritisch mitzudenken.

Elios Entwicklung: Vom Rückzug zur Erkenntnis
Obwohl Elio jung und unerfahren ist, zeigt er im Lauf des Romans eine beeindruckende emotionale Entwicklung. Anfangs schwankt er zwischen Zurückhaltung, Neugier und Unsicherheit – doch je weiter die Geschichte fortschreitet, desto mehr beginnt er, sich seiner Gefühle bewusst zu werden. Er reflektiert, liebt, leidet – und lernt, was es bedeutet, sich selbst ehrlich zu begegnen. Diese Entwicklung geschieht leise, aber eindrücklich. Das macht Call Me by Your Name zu mehr als nur einer Liebesgeschichte: Es ist ein Coming-of-Age-Roman im besten Sinne.
Schreibstil: Poetisch, sinnlich – aber manchmal überladen
Acimans Sprache ist atmosphärisch und sinnlich. Besonders in den kürzeren Sätzen entfaltet sich seine poetische Kraft – Gefühle werden oft mit wenigen Worten auf den Punkt gebracht, was mir sehr gefallen hat. Ein Beispiel:
„Er kam. Er ging. Nichts hatte sich verändert. Ich hatte mich nicht verändert. Die Welt hatte sich nicht verändert. Und doch würde nichts mehr sein wie zuvor. Alles, was bleibt, ist das Erträumen und die seltsame Erinnerung.“
Allerdings gibt es auch Passagen, die zu ausschweifend wirken. Manchmal verliert sich Aciman in gedanklichen Schleifen, ohne schnell zur Aussage zu kommen. Gerade in einem introspektiven Roman kann das den Lesefluss bremsen – es verlangt etwas Geduld von der Leserschaft.
Wer aber bereit ist, sich auf das langsame Tempo einzulassen und Sprache als Stimmungsraum zu genießen, wird hier reich belohnt. Und hin und wieder blitzt ein Satz auf, der so intensiv ist:
„Wenn ich ihn jede Nacht meines Lebens so in meinen Träumen haben könnte, würde ich mein ganzes Leben auf Träume verwetten und auf den Rest verzichten.“
LGBTQ+-Repräsentation: Queere Liebe ohne Drama?
Call Me by Your Name ist ein bedeutendes Werk innerhalb der queeren Literatur. Es erzählt eine queere Liebesgeschichte ohne moralische Verurteilung, Tragik oder Bestrafung – was gerade im historischen Kontext der LGBTQ+-Darstellung ungewöhnlich ist.
Die Geschichte spielt in einem privilegierten, intellektuellen Milieu und ist in vielen Momenten idealisiert. Das kann dazu führen, dass sich nicht jede queere Person in dieser Welt wiederfindet – was legitim ist. Doch gerade durch seine Zartheit, Intimität und Ambivalenz hebt sich der Roman positiv ab.
Fazit: Eine stille, sinnliche Sommerromanze
Call Me by Your Name hat mich emotional berührt. Es ist eine Geschichte über das Erwachen der ersten Liebe, über Begehren, Unsicherheit und das, was unausgesprochen bleibt. Das Buch ist kein perfekter Spiegel queerer Realität – aber vielleicht muss es das auch gar nicht sein. Es ist eine Reise in ein Gefühl, das universell ist: das Verlieben.
Für alle, die ruhige, feinfühlige Liebesgeschichten mögen und keine Angst vor emotionaler Tiefe haben, ist dieses Buch absolut lesenswert.
⭐⭐⭐⭐⭐
Leseempfehlung: Ja, besonders für Fans von introspektiver Literatur und queerer Coming-of-Age-Romantik.
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Weitere queere Buchtipps
Wenn dir Call Me by Your Name gefallen hat, könnte dir auch „Find Me“ gefallen – die Fortsetzung, in der sich Elio und Oliver Jahre später wieder begegnen. Stilistisch etwas anders, aber als Ergänzung lesenswert.
Außerdem empfehle ich:
- „Hör auf zu lügen“ von Philippe Besson (Lie With Me) – ein leiser, autobiografischer Roman über eine queere Jugendliebe im Frankreich der 1980er
- „Gespräche mit Freunden“ von Sally Rooney – kein klassischer queerer Roman, aber mit fluiden Beziehungsmodellen und einer komplexen, sensiblen Figurenzeichnung.
- „Mister Weniger“ von Andrew Sean Greer – ein witziger, berührender Roman über das Älterwerden und queere Selbstfindung. Pulitzerpreis-gekrönt.